Eines Tages kam eine Frau im Rollstuhl zu mir in die Sprechstunde und bat mich, ihr bei der Anrechnung ihrer Studienabschnitte zu helfen. Sie mußte in das Medizinische Dekanat, jedoch war der Lift in dieses Stockwerk nicht zugänglich. Zu Beginn ihres Studiums hatte sie noch keine Anzeichen ihrer schleichend voranschreitenden Behinderung. Als sie das erste Mal zu mir kam, saß sie schon im Rollstuhl.
Da sie nicht selbst ins Dekanat rauf konnte, schickte sie schon einige Woche zuvor ihre Mutter ins Sekretariat. Diese wurde jedoch mit dem Hinweis wieder weggeschickt, "die Studentin muß selbst vorbei kommen", was sie aber wegen des abgesperrten Liftes nicht konnte.
Ich versuchte den Liftschlüssel für die Studentin zu bekommen, was sich allerdings 3 Monate hinaus zog, weil auch ich nicht genau wußte, in Ansprechpartner in diesem Fall ist.
Zuerst versuchte ich mit dem Sekretariat der Medizin Kontakt aufzunehmen, in dem ich eine offizielle Anfrage schrieb, wie man als Rollstuhlfahrer ins dortige Sekretariat kommt. Eines Tages rief mich die Sekretärin an und teilte mir mit, daß sie mir diese Frage nicht beantworten darf. Kurze Zeit später rief mich der Institutsvorstand an. Ich fragte ihn, wie man als Rollstuhlfahrer in sein Institut kommt. Er meinte darauf, diese Frage könne er mir nicht beantworten. Ich darauf, sie werden doch wissen, ob sie über die Stufen ins Büro gehen oder den Lift nehmen. Dies war ihm anscheinend zu viel und er legte auf. Jetzt war ich so schlau wie zuvor, und die Studentin konnte noch immer ihre Zeugnisse für den 3. Studienabschnitt nicht anrechnen lassen.
Dann ersuchte ich, einen Mitarbeiter der Haustechnik mir einen Schlüssel für die Studentin auszuhändigen.
Eines Tages kam der Schlosser zu mir und brachte mir den Liftschlüssel. Er meinte nur, dieser Schlüssel alleine würde mir nichts nützen, denn es gäbe noch eine Zwischentür zum Dekanat. Ich ersuchte ihn, mir diese Türe zu zeigen. Tatsächlich - es war so. Wir einigten uns darauf, daß er mir in den nächsten Tagen auch diesen Schlüssel vorbeibringt.
Der Schlosser hielt Wort und so hatte ich endlich beide Schlüssel. Umgehend schickte ich der Studentin die beiden Schlüssel. Gleichzeitig dachte ich, daß jetzt für mich dieser Auftrag erledigt sei und die Studentin ihr Studium fortsetzen konnte.
Die Sommerferien kamen und ich bekam unerwartet einen Brief mit 2 Schlüssel und dem Hinweis "verstorben". Es waren die zwei Schlüssel der Medizinstudentin. Ich ging der Sache nach, und erfuhr, daß sie Selbstmord begangen hat.
Jetzt stellt sich für mich die Frage: Wer ist schuld am Selbstmord der Studentin?
Ich, weil ich über drei Monate gebraucht hatte, um zu den Schlüsseln zu kommen? Oder waren es doch andere Umstände?
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