Mittwoch, 2. Juni 2010

Studieren mit Behinderung oder Organisation ist das halbe Studium


Gastbeitrag von Kornelia Götzinger am 9. April 2003

Mehr als zehn Prozent der Studierenden sind behindert oder chronisch krank. Die daraus resultierenden Probleme liegen oft nicht an der Krankheit selbst sondern an der fehlenden Infrastruktur.

Rund 9.900 Personen sind an der Universität Wien in irgendeiner Form gesundheitlich beeinträchtigt. Die größte Gruppe sind chronisch Erkrankte, AllergikerInnen und Personen mit einer Atemwegserkrankung. Körperbehinderte Studierende (RollstuhlfahrerInnen, Stock- und KrückengeherInnen) sind zu circa zehn Prozent an der Universität Wien vertreten. Sehbeeinträchtigt sind fünfzehn Prozent und sechs Prozent sind in irgendeiner Form hörbehindert oder gehörlos. Durch die immer stärker Fuß fassende Schulintegration werden die Zahlen behinderter Studierender in den nächsten Jahren deutlich steigen.


Fehlende Infrastruktur

Erfahrungsgemäß gehen behinderte Studierende weniger oft zu Lehrveranstaltungen und haben einen wesentlich höheren organisatorischen Aufwand, ihr Studium zu bewältigen. So kann die positive Bescheidung eines Antrags auf Aushändigung eines Liftschlüssels zwei Monate dauern. Schleichwege ausfindig zu machen, weil der Hauptweg Stufen hat, kann bis zu 30 Minuten in Anspruch nehmen. Dazu kommen noch fehlende Handläufe, schlecht beleuchtete Hörsäle und nicht vorhandene Schreibpulte für RollstuhlfahrerInnen. Von blinden Personen kommt immer wieder die Klage, dass der Uni-Campus aufgrund seiner Wegführung ohne fremde Hilfe nicht zu benützen ist. Diese Probleme könnten gelöst werden, wäre in den letzten Jahren auf behindertengerechte Baumaßnahmen nicht immer wieder verzichtet worden.


Öffentliche soziale Stellen zahlen

Da die Universität Wien keine Zivildiener und GebärdendolmetscherInnen für behinderte Studierende zur Verfügung stellen kann, müssen behinderte Studierende ihre benötigte Assistenz und Hilfsmitteln bei Kostenträgern wie dem Bundessozialamt einreichen. Die Bewilligung der Anträge kann oft bis zu einem Jahr dauern. Da in Österreich nur behinderte Menschen, nicht aber Einrichtungen wie Schulen, Universitäten oder Firmen von öffentlicher Hand gefördert werden, war zum Beispiel der Einbau eines ebenerdig zugänglichen Liftes ein Bauprojekt, dass sich über zwölf Jahre hinzog, bis sich alle zuständigen Stellen bereit erklärten, die Kosten zu übernehmen.


Blindengerechter Leseplatz

Für die Aufbereitung von Vorlesungsunterlagen ist im Sonderleseraum der Universität Wien ein blinden- und sehbehindertengerechter Leseplatz eingerichtet. Die beiden Mitarbeiterinnen Kerstin Tischler und Ursula Hermann sind bestrebt, so schnell wie möglich Bücher und Skripten in Blindenschrift auszudrucken. Dieser Service wird für Studierende kostenlos angeboten.


Organisation ist das halbe Leben

Behinderte und chronisch kranke Studierende müssen organisieren können, um an der Universität Wien zu überleben. Dennoch haben sie sehr oft Probleme bei der Beschaffung von Informationen, von Büchern und Skripten, bei der Anmeldung zu Prüfungen und bei der Abholung von Zeugnissen. Mangelnde Unterstützung der Vortragenden ist auch oft ein Kritikpunkt. Die Anwesenheitspflicht macht vor allem berufstätigen behinderten Studierenden schwer zu schaffen. Der Zugang zu Informationen wie zum Beispiel der Aushang von Prüfungsterminen wird vor allem von sehbehinderten und blinden Personen kritisiert. Oftmals sind Lehrende nicht bereit, Kopien ihrer Overheadfolien sehbehinderten Studierenden zu überlassen. Das Mitschreiben des Vorlesungsstoffes wird vor allem von schwer sehbehinderten und blinden Menschen kritisch bewertet. Oftmals wäre diesen Personen viel geholfen, wenn ihnen die Aufnahme mittels Kassettenrecorders vom Vortragenden erlaubt werden würde.


Prüfungsbestimmung für behinderte Studierende

Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich durch den Prüfungsmodus. Obwohl der Gesetzgeber in dieser Hinsicht schon vor Jahren folgende Bestimmung festgeschrieben hat: § 55 (3): Die oder der Studierende ist berechtigt, mit der Anmeldung die Ablegung der Prüfung in einer von der im Studienplan festgesetzten Prüfungsmethode abweichenden Methode zu beantragen. Dem Antrag auf Genehmigung einer abweichenden Prüfungsmethode ist zu entsprechen, wenn die oder der Studierende eine länger andauernde Behinderung nachweist, der ihr oder ihm die Ablegung der Prüfung in der vorgeschriebenen Methode unmöglich macht, und der Inhalt und die Anforderungen der Prüfung durch eine abweichende Methode nicht beeinträchtigt werden", wissen die wenigsten Prüfer darüber Bescheid. Es bleibt also noch viel zu tun. Gesundheitliche Probleme machen behinderten und chronisch kranken Studierenden die wenigsten Probleme. Viel eher sind es inakzeptable Studienbedingungen, eine unzureichende Betreuung durch das Lehrpersonal und die mangelhafte Infrastruktur, die zu Überlegungen führen, das Studium abzubrechen. Um dies zu verhindern, müssten EntscheidungsträgerInnen umdenken. Behinderte Studierende dürfen nicht länger als BittstellerInnen angesehen werden. Sie haben die gleichen Rechte wie alle anderen Studierenden.

entnommen aus: dieuniversität online
Kornelia Götzinger, Behindertenbeauftragte der Universität Wien von 1996-2009

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